Armutsbericht der Bundesregierung vom Mai 2008

Herr Scholz, Sie legen nächste Woche den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vor. Wie viel Armut gibt es in Deutschland?
Arm ist, so definiert es die EU, wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, also 781 Euro netto. Die Armutsrisikoquote liegt nach dieser Rechnung bei 13 Pozent der Gesamtbevölkerung. Besonders bedrückend bleibt für mich, dass die Zahl derjenigen, die arbeiten und sich trotzdem im Armutsrisikobereich befinden, größer geworden ist. Das zeigt: Wir haben zu niedrige Löhne in Deutschland und wir brauchen Mindestlöhne.

Kann man da wirklich von Armut im engeren Sinn sprechen?
Diese Bürger haben es oft sehr schwer, mit dem auszukommen, was sie haben. Aber vielleicht die wichtigste Botschaft des Berichts: Der Sozialstaat wirkt! Wenn es die Sozialttransfers wie Arbeitslosengeld II, Wohn- oder Kindergeld nicht gäbe, dann hätten wir statt 13 Prozent 26 Prozent Arme.

Wer sind diese 13 Prozent, die in Armut leben?
Am schlimmsten ist die Lage für die Langzeitarbeitslosen und die Alleinerziehenden und deren Kinder. Allerdings: Haben die Eltern Arbeit, sinkt das Armutsrisiko auf nur noch vier Prozent der Haushalte mit Kindern. Es ist also richtig, wenn wir es mit dem Ausbau der Kinderbetreuung den allein erziehenden Eltern leichter machen, eine Arbeit aufzunehmen.

Früher bedeutete Armut konkret: Zu wenig zu essen, schlechte Kleidung, kein Dach über dem Kopf. Wie ist das heute?
Die physische Form der Armut können wir in Deutschland weitgehend vermeiden. Zum Beispiel hat sich seit 1998 die Wohnungslosigkeit halbiert: von 530.000 auf 254.000 Betroffene. Aber: Armut ist auch heute nichts Abstraktes. Die Betroffenen merken das schon. Deshalb ist es gut, dass die Armut bei Älteren heute seltener ist als früher. Nur 2,3 Prozent von ihnen sind auf die Grundsicherung angewiesen, weil Rente und andere Einkünfte nicht reichen.

Die Orientierung des Armutsbegriffs am Durchschnittseinkommen ist doch völlig lebensfremd. Denn wenn alle Bankvorstände in diesem Land eine Millionen Euro zusätzlich erhalten, steigt das Durchschnittseinkommen und somit die statistische Zahl der Armen. An deren tatsächlicher Situation hat sich aber nichts geändert.
Klar. Wir haben es mit einem statistischen Wert zu tun. Und richtig ist auch, dass viele der 13 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, die von Armut in Deutschland bedroht sind, mehr zum Leben haben als die Durchschnittsverdiener in vielen anderen Ländern. Doch man vergleicht die eigene Situation mit der des Nachbarn.

Was macht die Bitterkeit der Armut in einem Land wie Deutschland aus?
Es tut weh, wenn man auf jeden Cent achten muss. Wenn man sich selbst, und vor allem den Kindern, nicht das ermöglichen kann, was man bei anderen sieht. Das Schlimmste ist aber, wenn das Gefühl dazu kommt: Ich kann an meiner Lage nichts ändern, ich habe keine Chance, mein Leben zu verbessern.

Wie können Sie diesen Menschen helfen?
Indem wir sie in Arbeit bringen. Zudem müssen alle Kinder unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage eine Chance auf gute Bildung bekommen. 15 Prozent der ab 35-Jährigen haben keinen Berufsabschluss. Fast 8 Prozent der Schüler brechen die Schule ohne Abschluss ab. Das sind viel zu viele. Ich will bei der Reform der Arbeitsvermittlung durchsetzen, dass künftig jeder Arbeitslose, der das will, den Hauptschulabschluss nachholen kann. Wer sich aufrafft, um seine Lage zu verbessern, darf nicht auf unüberwindbare Hürden stoßen. Wir brauchen deswegen auch mehr gute Ausbildungsplätze.

Aber es gibt doch schon jetzt mehr Lehrstellen-Angebote als Bewerber…
Nur für die, die die Wirtschaft für geeignete Bewerber hält. Da fallen viele durch den Rost, die die Unternehmen nicht einstellen wollen. Ich will aber, dass alle jungen Leute eine Chance bekommen. Ich appelliere an die Wirtschaft: Gebt allen, die sich anstrengen, die Möglichkeit, zu zeigen, was sie können!

Bedeutet Armut in Deutschland auch das Risiko, früher zu sterben?
Wer sehr wenig Geld hat, hat statistisch kürzere Lebensaussichten als Menschen mit hohen Einkommen. Darum ist der Sozialstaat ja nicht überflüssig, wie einige meinen, sondern überlebensnotwendig für die Betroffenen. Aber ein Sozialstaat ist nicht für umsonst zu haben. Ich kann mich nur wundern, dass einige derzeit über einen ganzen Sack voller Steuererleichterungen diskutieren. Im Bundeshaushalt werden fast 80 Milliarden Euro für die Rente, fast 40 Milliarden Euro zur Vermittlung und Unterstützung der Arbeitslosen ausgegeben. Ich befürchte, dass wer wie jüngst der Wirtschaftsminister behauptet, im Bundeshaushalt sei noch viel Geld zu holen, plant, den Arbeitslosen und Rentnern Geld wegzunehmen. Das ist völlig unangemessen!

Glauben Sie, dass Glos wirklich Rentner und Arbeitslose schröpfen will?
Er muss wissen, dass das Geld für die Steuerversprechen der CSU nicht da ist. Wahrscheinlich hat er deshalb in dieser Woche gesagt, dass man einen Haushalt ohne Schulden nicht über alles stellen dürfe. Die Pläne der CSU sind nur auf zwei Weisen zu bezahlen: Entweder mit einem massiven Anstieg der Staatsverschuldung oder durch einen Kahlschlag bei Rentnern und Arbeitslosen. Beides kommt nicht in Frage.

Ihr Bericht heißt Armuts- und Reichtumsbericht. Was ist eigentlich mit dem Reichtum in Deutschland?
Die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet. Die Einkünfte der Reichen sind gewachsen, dagegen sinken die Einkommen im unteren Bereich leicht, im mittleren stagnieren sie.

Wer gilt eigentlich als reich?
Wer als Alleinlebender im Monat netto mehr als 3.418 Euro zur Verfügung hat, gilt für die Statistik als reich, auch wenn er das so nicht empfinden wird. Eine Familie mit zwei Kindern gilt ab 7.178 netto im Monat als reich.

Die SPD will die Reichen stärker besteuern. Warum?
Die SPD wird dafür sorgen, dass die Staatsschulden nicht immer weiter steigen. Sonst fehlen uns irgendwann die Mittel für unseren Sozialstaat. Wer die unteren Einkommen entlasten will, muss das an anderer Stelle, da wo es nicht weh tut, wieder rein holen.

BAMS: SPD-Chef Kurt Beck will einen ganz persönlichen Beitrag dazu leisten, dass es Bedürftigen besser geht: Er will sich für eine Million Euro den Bart abrasieren und das Geld wirklich Hilfsbedürftigen spenden. Als Sozialminister müssten Sie doch einen Tipp haben, wer die Million gut gebrauchen kann.
Scholz: Erst muss jemand das Geld auftreiben. Wenn Kurt Beck mich fragt, werde ich ihn gern beraten. Die meiste Unterstützung verdient das ehrenamtliche Engagement für diejenigen, die sich alleine nicht helfen können: etwa für Behinderte.

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